Lange, bevor der Mohn blüht
Wir erinnern uns an eine ganz besondere Frau
Frau Hellenen (Name geändert) verstarb in Frühjahr 2022 in unserem Hospiz. Für einige Wochen hatte sie hier mit den anderen Hospizgästen und uns zusammengelebt.
Frau Hellenen hat die Adventszeit, Weihnachten und den Jahreswechsel erlebt. „Ja moi, jetzt bin ich hier bei Euch, ich bleibe eine Weile, die Mohnblüte möchte ich noch sehen“ waren ihre Worte beim Einzug.
Im Januar 2022 räumen Anne und ich ihr Hospizzimmer. Sie ist verstorben – lange, bevor der Mohn blüht.
Die Zugehörigen nehmen ihre Sachen mit. Wir werden gebeten, uns um all das Verbliebene zu kümmern. In ihrem Vermächtnis entdecken wir einen besonderen Schatz. Eine Kladde, von außen eher unscheinbar, aber die Seiten gefüllt mit Zitaten, Weisheiten, Zeilen, die Frau Hellenen wichtig waren, die sie handschriftlich festgehalten hat (nachfolgend „fett kursiv“).
Ihre ehrenamtliche Begleiterin Anne und ich beginnen zu lesen, und wir erinnern uns mit ihren aufgeschriebenen Zeilen an die Zeit mit Frau Hellenen. Zwei Stunden haben wir in ihrem Zimmer verweilt, gelesen, geredet, gelacht und geweint. Einige Gedanken haben wir hier aufgeschrieben.
„Im Leben geht es nicht darum, gute Karten zu haben, sondern mit einem schlechten Blatt gut zu spielen“
Es war ein besonderes Kennenlernen – Frau Hellenen hatte sich zu einem „Letzte Hilfe Kurs“ angemeldet. Sie wollte diesen Kursus machen, um sich mit dem Lebensende auseinanderzusetzen. „Vielleicht werde ich dann ehrenamtliche Hospizbegleiterin“, sagte sie mir damals im Herbst 2019 am Telefon. Der Kursus war bereits belegt, und so musste ich sie damals mit einem Platz auf der Warteliste vertrösten. Im Januar sollte der nächste Kursus stattfinden. Ich rief sie an und war erschrocken, als sie sagte: „Ich werde nicht mehr am Kurs teilnehmen, ich werde keine ehrenamtliche Sterbebegleiterin, ich werde sterben. Aber so ist es ja besonders gut, dass sie schon meine Telefonnummer und Adresse haben.“ Sie möchte meinen Besuch, um sich im Stationären Hospiz anzumelden. „Noch ist es ja nicht so weit, aber ich möchte vorsorgen“, sagt sie.
„Zusammenkommen ist der Anfang. Zusammensein ist ein Fortschritt Zusammenbleiben ist ein Erfolg“
So lernten wir Frau Hellenen, die im Lauf der Zeit für uns beide zu Greta wurde, kennen. Ich war damals Koordinatorin im Ambulanten Hospiz und besuchte Frau Hellenen in ihrem besonderen Zuhause. Siebzig Stufen waren zu erklimmen, um ihre kleine Wohnung hoch über den Dächern Göttingens zu erreichen. Eine sehr kleine Wohnung. Nur eineinhalb Zimmer, sehr bescheiden eingerichtet. Aus dem, was sie besaß, und das war wenig, hatte sie es sich schön gemacht. In dieser Miniwohnung war das Leben spürbar.
Schnell war nach diesem Gespräch die richtige Ehrenamtliche gefunden, denn Frau Hellenen hatte klare Vorstellungen. Menschlich sollte sie sein, klare Kommunikation auf Augenhöhe gewünscht, eine „Handfeste“, eine Interessierte, offen sollte sie sein und humorvoll.
Anne Jakobi: Als ich Greta kennenlernte, war sie zunächst doch skeptisch; „Brauche ich jetzt schon Hospizbegleitung? Noch bin ich sehr lebendig. Was soll‘s, Sie gefallen mir, die Chemie stimmt.“
Ich begleitete Greta durch den Verlauf ihrer Krankheit, fuhr mit ihr zu Diagnostikgesprächen, begleitete sie zur Chemotherapie und besuchte sie im Krankenhaus nach der Operation. Von Anbeginn der Erkrankung war klar, es wird keine Heilung geben, aber mit der palliativen Therapie versuchen die Ärzte, die Symptome zu lindern und die Lebenszeit nicht nur zu verlängern, sondern die Möglichkeit zu eröffnen, lange selbstbestimmt zu bleiben. Immer mittwochs habe ich sie besucht. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht. Sie hat aus ihrem Leben erzählt, über das Schwere in ihrer Ursprungsfamilie und das Gute, das sie erleben konnte auf ihren Reisen, mit ihren Freund*innen und ihrem Ehrenamt für junge Familien. Eine Freundschaft ist entstanden. Wir haben Zeit in ihrem und meinem Garten verbracht, waren Einkaufen und Eis essen. Wir haben viele intensive und tiefe Gespräche geführt. Und ich habe sie begleitet in das Stationäre Hospiz, auf ihrem letzten Weg bis heute, da ich ihre Sachen packe.
„Wenn die Wurzeln tief sind, braucht man den Wind nicht zu fürchten“
Sie war eine wunderbare Frau! Zutiefst menschlich, empathisch, vorurteilsfrei, offen, präsent, immer hilfsbereit. Sie hat die Menschen geliebt!
Die Natur war ihr wichtig, hier hatte sie ihre Wurzeln. Und sie war wissbegierig – sie ist viel gereist. In der ganzen Welt. Sie wollte die Menschen und die Kulturen erleben, das hat sie so lebendig gemacht.
Mit all ihren Schicksalsschlägen ist sie umgegangen, hat sich auf ihre Wurzeln besonnen und Wege gesucht. Sich dem Wind des Lebens gestellt.
„Man muss den Weg nicht steiniger machen, als er ohnehin ist, sondern den Blick für die Blumen am Wegesrand bewahren“
Im Hospiz eingezogen hat sich Greta die Organisation einer gesetzlichen Betreuung gewünscht und war froh, dass sich unsere Sozialarbeiterin um alles gekümmert hat. Sie hat sehr bewusst Last abgegeben. Und oft hat sie gesagt: „Siebzig Stufen brauche ich jetzt nicht mehr zu steigen, mein Zimmer, das ist da vorn.“
„Man sollte weniger Wert auf sein Gewicht und dafür mehr Gewicht auf seine Werte legen“
Greta hat mit Genuss im Hospiz gelebt. Jeden Tag hat sie sich über den schön gedeckten Tisch gefreut, das Essen, die anderen Hospizgäste, Angehörige und unsere Tischgesellschaft genossen. Und sie hat Dankesbriefe geschrieben an unsere ehrenamtlichen Kuchenbäckerinnen und den Koch. Im ganzen Hospiz hat sie heimlich kleine Kärtchen verteilt auf denen „Hosentaschensonne“ stand.
Als wir den Weihnachtsbaum geschmückt haben, war sie dabei und das, obwohl „ich ja eigentlich nie was übrig hatte für Weihnachten“. Den kleinen Weihnachtsmarkt auf der Terrasse, den Heiligabend und auch den Jahreswechsel hat sie sehr bewusst mit uns allen im Hospiz erlebt. Bis es ihr dann Mitte Januar schlechter ging, der Schwindel zunahm und sie schwächer wurde.
„Wunschlosigkeit führt zu innerer Ruhe“
Greta verlässt ihr Zimmer nicht mehr, bald auch nicht mehr das Bett. Sie isst nicht mehr, trinkt wenig. Besuche ihrer Freundinnen möchte sie nicht, nur Anne soll weiter bei ihr sein und ihren Bruder und ihre Schwester will sie ein letztes Mal sehen.
Und immer muss das Fenster jetzt geöffnet bleiben – „meine Seele muss rauskönnen“.
Greta Hellenen stirbt ganz ruhig. „Ein ganz besonderes Sterben mit einem Lächeln“, so erzählen es uns die Pflegekräfte, die bei ihr waren.
„Das Leben ist wie eine Pusteblume, wenn ihre Zeit gekommen ist, muss jeder allein weiterfliegen“
Anne Jakobi (ehrenamtliche im Hospiz an der Lutter) und Manuela Brandt-Durlach (Hospizleitung)
Die Mohnblüte hätte Greta gern noch gesehen.







